Tiefbewaldete Inseln, nebelverhüllte Berge,
üppiges Grün und viel Regen – so stellte ich mir die Queen Charlottes
Inseln (Haida Gwaii) vor meinem Besuch vor. Dort angekommen, wurde das
Bild Wirklichkeit und wuchs zu einem bunten, lebenden Gemälde, das alles
und noch mehr beinhaltete, was ich mir vor Augen geführt hatte – ohne den
Regen. Die meiste Zeit während unserer 8-tägigen Kajaktour im Gwaii Hanaas
National Park erlebten wir die „nebligen Inseln" unter strahlender Sonne.
1.Tag Mit
dem Zodiac-Schlauchboot werden wir und unsere Kajaks nach Süden in den
Gwaii Haanas National Park* transportiert. Im Eiltempo flitzen wir über
die Wasseroberfläche, vorbei an unzähligen, tiefbewaldeten Inseln. Dann
sind wir am Ausgangspunkt unserer Kajaktour angelangt: die Insel Tanu
(T’aanuu), auf der einst ein aus bis zu 40 Großhäusern bestehendes Dorf
und ein Wald von Totempfählen den Strand beherrschte.
Um die
Jahrhundertwende kamen weiße Siedler, und mit ihnen die Pocken, denen die
meisten Haida erlagen. Die wenigen Überlebenden flüchteten nach Norden, in
die Orte Skidegate und Masset. Heute sind in Tanu nur noch Vertiefungen im
Waldboden, moosüberwachsene Dachbalken und –pfähle zu sehen, doch die Aura
dieses Ortes ist immer noch spürbar. Ein mit Muscheln begrenzter Pfad
führt zum bescheidenen Grab von Bill Reid, dem berühmten Haida
Künstler.
Das Schlauchboot ist abgefahren. Stille. Wir verstauen unsere
Ausrüstung und lassen die Boote zu Wasser. Zuerst ist das Meer noch
spiegelglatt, als wir zur gegenüberliegenden Kunga Island paddeln, aber
dann nimmt der Südwestwind an Stärke zu. Gischt formt sich auf den
Wellenkämmen. Im Windschatten einiger Felsen beäugen wir unser Ziel, Lyell
Island, durch eine Meerenge von aufgewühltem Wasser von uns getrennt.
Sollen wir es wagen? „Es kann nicht länger als eine halbe Stunde dauern,"
ruft Jake hinter mir und mit dem Vorsatz „jetzt oder nie" steuern wir
unser Kajak in die Wellen. Kalte Gischt fliegt mir ins Gesicht und in den
Nacken, und meine Hände verkrampfen sich am Paddelschaft. Angestrengt
peilen wir eine Landmarke auf Lyell an und paddeln darauf zu. Als wir nahe
der Küste sind, ist das Schlimmste vorüber. Wir umrunden die Nordspitze
und paddeln bis Windy Bay (Hlk’yah), eine Bucht an der Ostküste, in der
einst auch ein Haida Dorf stand. Als wir den Eingang passieren, sind Wind
und Wellen plötzlich ausgeschaltet. Stilles Wasser, dunkle Wälder, ein
Bach und ein sandiger Strand laden zum Landen ein. Im Schatten von Tannen,
Fichten und Zedern steht eine Nachbildung eines Haida Großhauses und eine
Holzhütte, die im Sommer von einem Haida Wächter bewohnt ist. Heute aber
ist niemand zuhause und wir machen uns im Großhaus heimisch. Ich bin froh,
aus den klatschnassen Kleidern zu kommen, aber meine verkrampften Finger
können kaum den Reißverschluß an meiner Schwimmweste öffnen.
Kampfplatz der
Naturschützer
Während der 80er Jahre wurde Lyell Island zum Schauplatz der Kämpfe
zwischen Naturschützern und Holzfäller Magnaten. Nach jahrelangen
Demonstrationen und Verhaftungen, die Empörung auf internationaler Ebene
erregten, wurde 1987 der Holzabbau im südlichen Teil von Haida Gwaii
eingestellt. Heute erstreckt sich Gwaii Haanas National Park über den
südlichen Teil von Moresby Island und Hunderte von kleineren Inseln.
Baumriesen
2. Tag
Wir erkunden das Innere der Insel. Gedämpftes Licht dringt durchs dichte
Geäst auf den moosbedeckten Waldboden. Und dann stehen wir vor einem
Giganten: eine riesige Sitka-Fichte mit einem Stammumfang von mehr als 20
Metern. Mein Nacken schmerzt bei dem Versuch, diesen Giganten im Ganzen zu
erfassen. Wir legen uns ins Moos und halten stille Zwiesprache mit diesem
Naturwunder. Auf unserem Weitermarsch stoßen wir auf weitere Baumriesen,
unter ihnen Zedern, die Rindennarben und Brandmarken aufweisen – Zeichen
von Aktivitäten der einstigen Haida Handwerker.
Die Haida verehrten die Zeder, deren Holz, Rinde, Wurzeln und Nadeln
sie mit allem versorgte, was sie zum Leben brauchten: aus dem Holz
fertigten sie Häuser, Kanus und Werkzeuge, und aus der Rinde und den
Wurzeln Gegenstände für den Haushalt, die Jagd und den Fischfang. Und
schließlich lieferte die Zeder den Rohstoff für zeremonielle und
künstlerische Gegenstände: Totempfähle, Begräbnisschachteln, Schnitzereien
und Masken. „Oh, die Zeder!" Hätte die Menschheit in ihrer
Frühzeit um einen perfekten Rohstoff für alle Materialien und ästhetischen
Bedürfnisse gebetet, So hätte ihnen ein gütiger Gott nichts besseres
bieten können." (Bill Reid)
Am Spätnachmittag sitzen wir in unseren Kajaks am Eingang zur Bucht und
lassen unsere mit Lachsköder versehenen Angelhaken am Meeresboden auf- und
abtanzen. Wir werden belohnt: mehrere Kabeljau-ähnliche Fische gehen an
die Haken. Zum Abendessen genießen wir köstlichen Fischeintopf;
Unterhaltung bietet eine Zänkerei zwischen einem Weißkopfseeadler und
einer Krähe.

Insel-Paradies
3. Tag
Mit der eintreffenden Flut sind wir am Morgen unterwegs. Ein kräftiger
Nordwind schiebt uns nach Süden, entlang der Ostküste von Lyell Island. Zu
unserer Linken befindet sich die gefürchtete Meeresstraße, Hecate
Straight, die den Archipel vom Festland trennt. Kleine Schaumkronen
erscheinen auf den Wellenköpfen und wir rasen unter einem achterlichen
Wind dahin, erreichen den Eingang zum Juan Perez Sound und schlagen uns
auf die Leeseite von Hotsprings Island (Gandle K’in) durch.
Bei Niedrigwasser schaffen wir es gerade noch, die Boote auf
einem winzigen, kiesbestreuten Strandstück zu landen. Zwischen
Kiefernbäumchen und Heidekraut folgen wir einem Kiespfad, bis wir auf das
stoßen, was der Insel ihren Namen gibt: bläulich-grüne, steinumrahmte
Teiche, gefüllt mit heißem Wasser. Auch hier gibt es eine Hütte für einen
Haida Wächter, aber niemand ist zuhause. Im Badehäuschen waschen wir uns
mit heißem Wasser und tauchen dann bis zum Hals in die Wasserbecken. Der
Geruch der Kiefern und das Summen von Insekten wirkt entspannend. Vor uns
bietet sich eine spektakuläre Aussicht über das Meer und zu der
schneebedeckten San Cristobal Bergkette von Moresby Island. Ein Paradies:
Wir haben es gefunden.
Aber Zelten ist im Paradies nicht mehr erlaubt, so müssen wir wieder
zusammenpacken und weiterpaddeln. Am Spätnachmittag landen wir an der
Westspitze von Ramsay Island, schlagen die Zelte im Moos unter Bäumen auf,
und kochen Muscheln in einem Topf überm Lagerfeuer.
Idyllische Inseln
4. Tag
Wieder strahlender Sonnenschein. Wie kann das sein? Wir wurden vor dem
regnerischen Wetter gewarnt. Unter einer leichten Brise lassen wir die
Kajaks zu Wasser und paddeln in westlicher Richtung zu einer Inselgruppe,
den Bishoffs. Beim Näherkommen tut sich uns eine magische Welt auf:
Glasklares Wasser, wiegende Seetangwälder, und eine Schule von Seehunden,
die uns spielerisch schwebend durch die Meerenge zwischen den Inseln
folgt.
Das ebbende Meer zwingt uns
zu einer schnellen Entscheidung über die Wahl eines Zeltplatzes. Auf einem
schmalen Landstück, von zwei gegenüberliegenden Buchten fast durchtrennt,
schlagen wir die Zelte auf. Überall um uns herum zeigt sich Leben:
muschelüberwachsene Felsen, mit Seeigeln übersäte Gezeitentümpel, bunte
Seesternekolonien, und die putzigen Austernfischer, die mit ihren
Steckenbeinen auf wasserüberspülten Felsen herumtippeln. Mit der
zurückkehrenden Flut paddeln wir noch einmal hinaus und umrunden die
Inseln. Bei zunehmendem Wind versuchen wir unser Anglerglück auf der
Leeseite, und kehren mit vier Fischen zu unserem Zeltplatz zurück.
5.
Tag Vogelgesang weckt mich um 5 Uhr.
Der Himmel ist verhangen und der Wind wühlt das Wasser an der Südseite
unseres Inselchens auf. Jake meint es ist zu windig um zu paddeln, so
kuschle ich mich wieder in den Schlafsack. Um 8 Uhr 30 hat sich der Wind
gelegt, aber es ist Niedrigwasser und unsere Bucht ist trockengelegt. So
frühstücken wir erst einmal gemächlich und warten auf die Flut.
Geheimnisvolle Buchten
Eine leichte Dünung schaukelt unsere Kajaks, als wir die Südspitze von
Lyell Island umrunden und Juan Perez Sound überqueren. Bei starkem Wind
und Wellengang wäre eine solche Überfahrt zu riskant, da man auf dem
offenen Wasser den Naturgewalten ausgesetzt wäre. Am Nachmittag steuern
wir unsere Boote in eine kleine Bucht an der Ostküste von Moresby Island,
errichten die Zelte und machen Mittagspause. Danach steigen wir nochmal in
unsere Kajaks und erkunden Kostan Inlet, die nächste Bucht, nördlich von
unserem Zeltplatz. Bald sind wir von bewaldeten Steilhängen umgeben, die
unter der Wasserlinie von roten, orange-farbenen und violetten
Seesternenkolonien leuchten. Ein Schwarm Kanadagänse zieht schreiend
vorüber. Seehunde schlagen Kapriolen im dunkelgrünen Wasser. Die Bucht
verengt sich. Das Dunkel der Wälder und des Wassers verleiht der ganzen
Umgebung etwas Geheimnisvolles. Dann kommt ein Regenschauer und hüllt
alles in einen grauen Schleier. Als wir uns die Regenjacken überziehen,
ist er schon wieder vorbei.
Auf dem Rückweg zum Zeltplatz versuchen wir noch einmal unser
Anglerglück. Mit drei Fischen und einem Topf voll riesiger Muscheln kehren
wir zurück. Eine milde Abendsonne verleitet mich zu einer Katzenwäsche im
Bach. Wie weich sich doch das Bachwasser anfühlt! Zum Abendessen erleben
wir eine Enttäuschung: beim Aufbrechen der riesigen Muscheln entdecken wir
kleine Krebse in ihrem Innern. Auch der Geschmack läßt zu wünschen übrig.
Angewidert werfen wir sie den Möwen und Seehunden zu.
6.
Tag Wieder ein klarer Morgen. Um 10 Uhr
sind wir unterwegs. Um zur Südspitze von Shuttle Island zu gelangen,
müssen wir den Eingang von Bigsby Inlet passieren, aus der starke Windböen
von den Berghängen herabfegen. Das Paddeln wird anstrengender. Dann
verdunkelt sich der Himmel, und als wir an der Südspitze von Shuttle
Island an einem kleinen Strand anlegen, nieselt ein leichter Regen herab.
Unter einer Zeder suchen wir Schutz. Doch bald schon lichtet sich der
Himmel wieder und wir haben einen großartigen Ausblick auf Juan Perez
Sound. Den Nachmittag verbringen wir mit Herumstreifen, Lesen und Dösen,
und als die Flut zurückkehrt, paddeln wir weiter. Durch die Hoya Passage
geht es nach Norden, zuerst ganz nahe an der Küste von Shuttle Island
entlang, wo wir wieder unzählige Seesternekolonien bewundern können. Dann
überqueren wir die Hoya Passage und folgen der Küste von Moresby Island.
Am Abend dringen wir in eine Bucht ein, die sich immer weiter verengt, bis
sie schließlich in einer von steilen Waldhängen umgebenen Wiese mit einem
Bach endet. Hier im Echo Harbor kommen wir uns wie auf einer Bergwiese
vor, da die enge Bucht keinen Blick aufs Meer zuläßt. Nur der
Gezeitenwechsel erinnert uns daran, daß wir nahe der Küste sind.
Auf den Spuren der Goldsucher
7. Tag
Frühmorgens ist es klar und sonnig; dann kommen allmählich Wolken auf. Mit
der Flut verlassen wir diesen geschützten Hafen. Unser nächstes Ziel ist
Anna Inlet, wieder eine fjordähnliche Bucht, in der von 1907 bis 1928
Goldsucher Claims für den Bergbau absteckten und Fischereien
Konservenfabriken errichteten.
Schon bald stoßen wir auf
eine Spur aus dieser Zeit: ein mit Holzplanken angelegter Pfad im Wald,
der in Kehren nach oben führt. Neugierig folgen wir ihm. Oft müssen wir
uns unseren eigenen Weg durchs Gebüsch schlagen, da die „Goldsucherstraße"
immer mehr zerfallen ist. Nach einer Stunde erreichen wir das Ufer von
Anna Lake, einem dunkelgrünen Bergsee. Es tut gut, die Füße ins Süßwasser
zu stecken. Nach diesem Abstecher paddeln wir noch ein kurzes Stück weiter
nach Norden und zelten am Ende einer winzigen Bucht, mit Blick auf den
Klunkwoi Sound und Richardson Island. Es ist unsere letzte Nacht im Gwaii
Haanas National Park und wir genießen noch einmal die Abendstille. Während
unserer Kajaktour trafen wir auf keine Menschenseele; nur ab und zu
erspähten wir in der Ferne ein Fischerboot.
Letzter
Tag Am Morgen sind unsere Zelte mit
Tautropfen übersät, und das Gras ist mit leichtem Frost angehaucht. Doch
ein Feuer wärmt uns auf, und als wir in den Klunkwoi Sound hinauspaddeln,
treffen uns die Strahlen der Morgensonne. Nun haben wir nur noch ein paar
Stunden Paddeln vor uns. Wir müssen zur nächsten Bucht, Crescent Inlet, wo
der Kajakverleiher ein schwimmendes Bootshaus hat. Dort sollen wir um 11
Uhr sein und auf das Schlauchboot warten. Dieser letzte Tag im Gwaii
Haanas National Park könnte nicht schöner sein: Die schneebedeckten Gipfel
auf Moresby Island zeichnen sich scharf vom tiefblauen Himmel ab, und das
Meer glitzert. 
Kurz vor 11 Uhr erreichen wir das Bootshaus. Wir hieven die Boote aus
dem Wasser und entleeren sie. Dann verstauen wir unsere Ausrüstung in
unseren Tragetaschen und Rucksäcken, legen uns aufs sonnenwarme Dock und
warten auf das Schlauchboot. Stunden vergehen. Wir wünschten, wir könnten
noch weiterpaddeln, anstatt hier herumzusitzen. Aus Langeweile
durchstöbern wir das Innere der Hütte und finden einige Bücher, die
meisten davon über die Kultur und Natur dieser Inseln. Ein Foto von Tanu
um die Jahrhundertwende veranschaulicht uns, wie dieses Dorf einmal
ausgesehen hat.
Endlich, um 5 Uhr 30 erscheint das Schlauchboot, und nach einer Stunde
eifrigen Ladens sind wir abfahrtbereit. Als wir dann mit dröhnendem
Außenbordmotor durch die schaumgekrönten Wellenkämme der Hecate Straight
reiten und der Wind uns bis auf die Knochen abkühlt, bin ich traurig und
enttäuscht, daß der Abschied von Gwaii Haanas so abrupt war.
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