©
Karin Herrero |
|
 |
|
|
 |
|
Am nächsten Tag, unserem Abreisetag
vom Northwest Cape, stehen wir um 5 Uhr auf um die Windstille am
frühen Morgen auszunutzen bevor der übliche, 5-10 kn starke
Gegenwind beginnt. Heute jedoch haben wir kein Glück. Bis wir
in der Morgendämmerung alles zusammengepackt haben, hat der
Wind schon beträchtlich zugenommen. Es ist eine richtige
Herausforderung, das Boot zu Wasser zu lassen. Sobald wir im
Wasser sind erkennen wir, daß uns aufregendes Paddeln
bevorsteht. Wir kämpfen gegen einen starken Nordwestwind an,
der ständig an Stärke zunimmt. Erste Schaumkronen bilden sich
auf den Wellenkämmen. Mit schnellen Paddelschlägen halten wir
den Bug in den Wind und in die Wellen. Obwohl das Boot in den
Wellen mühelos seine Richtung behält, kommen wir kaum
vorwärts. Gischt spritzt mir ins Gesicht und so früh am Morgen
fühlt er sich nicht warm an. Wir erkennen die Zwecklosigkeit
unserer Bemühungen und steuern die Küste an, gerade
rechtzeitig bevor der offene Strand aufhört.
Unter
Bäumen entfachen wir ein Feuer, warten, und halten Ausschau
nach Zeichen, die ein Nachlassen des Windes andeuten. Um die
Mittagszeit scheinen sich Wind und Wellen etwas zu beruhigen und
wir starten noch einmal. Der Himmel klart auf und die Sonne
kommt durch. Wir befinden uns auf dem schwierigsten Teil der
sogenannten „Big Sable Route". Es gibt keine günstigen
Anlegestellen, wo man anhalten und sich die Beine vertreten kann.
Die einzige Möglichkeit ist, an Mangrovenwurzeln festzumachen.
Und genau das tun wir als nach zweistündigem Paddeln der Wind
wieder zunimmt. Wir steuern in einen der Seitenflüsse des Big
Sable Creek hinein. Auf einmal herrscht Stille. Ein paar Meter
vor unserem Bug bläst ein Delfin und wir beobachten wie er
durchs schmutzig-trübe Wasser gleitet. Jake will sich die Beine
vertreten und steigt auf die Mangrovenwurzeln, aber erkennt,
daß das nicht einfach ist. „Man muß die Hände genausoviel
benutzen wie die Beine" sagt er hinterher. Sobald sich der
Wind etwas legt fahren wir weiter. Wir halten uns nun eng an die
Mangrovenküste. Plötzlich stoppt Jake sein Paddel. „Ein
Manati," sagt er. „Du hast es fast mit deinem Paddel
geschlagen." Doch als ich den Kopf wende, ist es schon
verschwunden.
Das sollte unsere einzige Begegnung mit
diesen sanften Riesen sein, die in warmen, seichten
Küstengewässern und Flüssen leben und sich von Wasserpflanzen
ernähren. Das Manati hat einen runden, stromlinienförmigen
Körper, der mit dicker, rauher und gerunzelter Haut überzogen
ist. Mit einer kreisförmigen, paddelähnlichen Schwanzflosse
bewegt es sich vorwärts. Manatis können bis zu 4,5 m lang und
bis zu 600 kg schwer werden. Ihre engsten lebenden Verwandten
sind die Elefanten. In den USA sind Manatis als bedrohte Tierart
verzeichnet. Zusammenstöße mit schnellfahrenden Motorbooten,
Verschmutzung, Giftstoffe zur Unkrautvernichtung, und die
zunehmende Besiedlung der Küstengebiete tragen alle zum
Rückgang dieser Seekuhart bei.
Nach
zwei weiteren Stunden Paddeln erreichen wir die Mündung des
Little Shark River, wo mehrere Segelboote und ein Motorboot vor
Anker liegen. Der Wind ist fast eingeschlafen. Nach einer Pause
hinter dem Shark River Island umrunden wir die Spitze der Insel
und, im sanften Abendlicht, steuern über die 6 km weite Ponce
de Leon Bay auf den Zeltplatz von Graveyard Creek zu.
Es war der spanische Eroberer und
Entdecker Don Juan Ponce de Leon, der auf seiner unaufhörlichen
Suche nach dem Brunnen der ewigen Jugend auf dieses Land stieß
und es „La Florida" nannte, das „Land der Blumen."
Bei seinem ersten Besuch waren die Einheimischen freundlich
gesinnt, aber beim zweiten Besuch im Jahre 1521, bei dem er
vorhatte, das Land zu kolonisieren, entbrannte ein Kampf in der
Nähe von Sansibel Island. Ponce de Leon wurde von einem
Giftpfeil getroffen und starb später an seinen Wunden.
Im verblassenden Tageslicht gleiten wir
in die Mündung des Graveyard Creek – ein dunkler Kanal,
umringt von einem schwarzen Netz von Mangroven. Nur das
Plätschern von Fischen, die aus dem Wasser schnellen,
unterbricht die Stille. Als wir langsam den Fluß hineinpaddeln
laufen wir beinahe auf einigen Sandbänken auf. Zum Umdrehen
gezwungen, fahren wir den Fluß von einem anderen Winkel an.
Jake benutzt seinen GPS um den Standort des Campingplatzes zu
bestätigen: eine Landzunge auf erhöhtem Grund mit einem
kleinen Strand, einigen Picknicktischen und einem
Toilettenhäuschen vor einem Hintergrund von Mangroven und
anderen tropischen Bäumen. In der von den Moskitos beherrschten
Dunkelheit errichten wir unser Zelt. Aber die Nacht ist nicht
friedlich. Ein frecher Waschbär versucht immer wieder in unser
Boot zu klettern, obwohl ihm Jake mit einem Paddel einen Klaps
versetzt.
Vom Graveyard Creek geht es weiter zum
Highland Beach, wieder einem langen, muschelbedeckten Strand, an
den eine Graslandschaft mit Palmen grenzt. Wir freuen uns schon,
diesen Strand ganz für uns allein zu haben, aber dieses Mal ist
das nicht der Fall. Die Zelte einer Outward Bound Gruppe (eine
nordamerikanische Organisation, die Wildnistouren für
Jugendliche leitet) erheben sich in regelmäßigen Abständen
entlang der Küste. Wir unterhalten uns kurz mit zwei der
Gruppenleiter und zelten dann in der nördlichsten Ecke des
Strandes.
Nördlich
von Highland Beach sind wir dann wieder im Land der Mangroven.
Durch den zunehmenden Vollmond sind die Gezeiten spürbarer
geworden und wir schenken den Flußmündungen und unseren An-
und Abfahrtzeiten mehr Beachtung. Zum Glück scheint der
Vollmond die Fische zum Anbeißen zu verleiten. Zwei Tage darauf,
als wir First Bay während eines kurzen Regenschauers
überqueren (eine Süßwasserdusche!), fängt Jake eine
Seeforelle und zwei Fische, die Permit heißen. Da sie die
Mindestgröße überschreiten, können wir sie behalten, und am
Abend, auf unserem Zeltplatz auf dem Turkey Key, laben wir uns
an gebratenem Fisch.
Wir befinden uns nun an der südlichen
Grenze zu den Ten Thousand Islands, wo die Küste in Tausende von
Mangroveninseln aufgesplittert ist, und wo das Paddeln schwieriger
wird – vor allem mit einem Faltboot – da es hier scharfkantige
Austern gibt.
Am Morgen sind Zelt und Ausrüstung mit Tau
bedeckt und die Temperaturen sind angestiegen. Die erhöhte
Luftfeuchtigkeit ist spürbar. In der kommenden Woche erleben wir
Tagestemperaturen von +28 oC, und nachts brauchen wir
kaum die Schlafsäcke benutzen. Von Turkey Key fahren wir weiter
nach Norden bis wir die Mündung des Chatham River erreichen, wo wir
ins Landesinnere vorstoßen. Mit seinen unzähligen, sich ständig
wechselnden Sand- und Schlammbänken, und den vielen, mit Inseln
bespickten Fahrrinnen, stellt der Chatham River eine Herausforderung
für Navigatoren dar. Da wir mit der einströmenden Flut den Fluß
hinauffahren bewegen wir uns schnell vorwärts und nehmen
regelmäßig unsere Seekarte zu Hilfe und halten Ausschau nach
Sandbänken, bis wir nur noch den weiten, offenen Fluß vor uns
haben. Um Mittag kommen wir bei Watson`s Place an, unserem nächsten
Zeltplatz.
Watson’s Place war einst eine blühende
Zuckerrohr und Gemüsefarm auf einer 16 Hektar großen, aus
Muschelschalen aufgebauten Anhöhe, die von Generationen von
Indianern angehäuft worden war. Die Farm, unter dem Namen Chatham
Bend bekannt, wurde von dem berüchtigten Ed Watson bewirtschaftet,
der in den 90ger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit einer dunklen
Vergangenheit in die Everglades kam, und dem vorgeworfen wurde,
mehrere Menschen vor Ort ermordet zu haben. Im Jahr 1910, nachdem
mehrere mit Gewichten beschwerte Leichen im Fluß gefunden worden
waren, nahmen die Männer vom nahegelegenen Chokoloskee Island das
Gesetz in ihre Hände und erschossen Watson. Nach seinem Tod nahm
die Zahl der Legenden um die Person Watsons zu, hauptsächlich, da
er nicht der Stereotyp von einem Serienkiller war: er war
Familienvater, ein großzügiger Nachbar, ein erfahrener und
engagierter Farmer und ein erfolgreicher Geschäftsmann. Wie der
amerikanische Autor Peter Matthiessen notierte:
Das sensationellste Bild von der
Person Mr. Watsons ist jenes, das von den Inselbewohnern selbst
lebendig erhalten wird; und wie Dickens nach seinem
Amerikabesuch bemerkte: „den Amerikanern gefällt die Gestalt
eines Schurken." Nach Jahrzehnten auf einsamen, entlegenen
Inseln, wo es wenige angesehene Bürger gab, sind die
ehrwürdigen Zeitgenossen Mr. Watsons und ihre Nachfahren dazu
gekommen, Mr. Watson eine primitive Art von Verehrung
entgegenzubringen, da er seine ursprüngliche Rolle als
berüchtigter kaltblütiger Killer überstiegen hatte und zum
bildhaften Volkshelden wurde – eine Art
Westküsten-Gegenstück zum Bankräuber und Killer John Ashley,
dessen Bande das östliche Florida nach dem Ersten Weltkrieg
terrorisierte.
(Killing Mr. Watson, Seite
179-180, Vintage Books, New York, 1991)
Das einzige, was heute noch von Watson’s
Place übriggeblieben ist, sind einige Quadratmeter Lichtung im
Dschungel, mit ein paar Picknicktischen in der Mitte und einigen
verrosteten Farmgeräten am Rande.
Gerade
als wir am Auspacken sind biegt ein Kanu um die Ecke. Die zwei
Paddler Tony und Peter – zwei Amerikaner in den Fünfzigern –
sind auf einer viertägigen Rundreise von Everglades City aus, und
sie beabsichtigen, hier die Nacht zu verbringen. Wir tauschen
Erlebnisse aus und sie bieten uns Häppchen an aus ihren reichlichen
Lebensmittelvorräten: ein Flasche Gatorade (Energiegetränk für
Athleten), gegrillte Hähnchenstücke, Kartoffelchips, und, am
Morgen, frischgebratenen Speck. Beim Erzählen unserer Mr. Watson
Geschichten spaßen wir damit, daß der Ort auf dem wir stehen von
den Geistern der Opfer Mr. Watsons heimgesucht ist. Als die Moskitos
uns dann bei Sonnenuntergang mit Gewalt überfallen sind wir
überzeugt, daß sie die Erscheinungsformen der Geister Watsons sind.
Während Jake und ich die Insektenschutzjacken überziehen und einen
Kriegstanz aufführen um die Mücken davon abzuhalten mit uns ins
Zelt zu kriechen, sitzen Tony und Peter nur in Shorts und T-Shirt
gekleidet noch lange am Picknicktisch und trinken Cappuccino. Die
beiden haben sich von Kopf bis Fuß mit Insektenspray eingesprüht.
Sogar am Morgen lassen die Geister nicht
von uns ab. Beim Einladen des Bootes, in langen Hosen,
Insektenschutzjacke, Wollsocken und Handschuhen, kommt mir die
Platzangst, während mir der Schweiß übers Gesicht läuft und die
Moskitos um mich herum sirren. Endlich, als wir in den Fluß
hinauspaddeln, sind wir sie los.
Hier geht die Reise weiter... |
|